Die Erfindung der Eleganz von Kersten Knipp
Ein gutes Buch beherrscht sein doppeltes Spiel. Mindestens eine Ebene über der inhaltlichen hinaus, die der Text nicht explizit nennt. Das Zwiegespräch mit Leserinnen und Lesern – ganz in deren Gegenwart. Dieses Spannungsverhältnis kann auch ein Sachbuch leisten, das in der Zeit zurückblickt. Und von dort aus Impulse für die Gegenwart aufblitzen lässt. Ein diesbezügliches Glanzstück ist »Die Erfindung der Eleganz« von Kersten Knipp.
Vielleicht kündigt sich das Doppel auf dem Cover-Gemälde an: Die »Elegante Gesellschaft« von Benjamin Eugène Fichel, entstanden im 19. Jahrhundert, zeigt einen Pariser Salon. Mit Damen und Herren in eleganter Garderobe. Eine Gesellschaft möglicherweise im galanten Gespräch. Schließlich wurde den Bildern Fichels selbst eine »elegante Manier« bescheinigt.
Einen direkten Gegenwartsverweis gibt es nur am Anfang und am Ende des Buches. Am Ende mit der vorsichtig formulierten Hoffnung auf eine bessere Welt über eine achtsame Gesprächskultur des Miteinanders und des offenen Worts. Am Anfang, mit Blick auf Alltagsphänomene, die in das Schreibprojekt einführt: Der aus Achtlosigkeit zur Barrikade gestellte E-Scooter. Ein plumpes Rempeln en passant. Der Verlust der Achtsamkeit im urbanen Raum. Ebenso der Umbruch der Konvention von gestern. Etwa wenn das freundlich gemeinte Türaufhalten für eine Dame von dieser nicht mehr als Höflichkeitsgeste gewertet wird. Mithin der Verlust der Eleganz. Nur – welcher Eleganz? Was wären ihre Bedingungen? Zur Klärung begibt sich der Autor auf die Reise. Sie führt ins 17. Jahrhundert. Im Gepäck die Literaten des romanischen Kulturkreises. Im Zentrum, wie anders, Paris.
Wo das Bürgertum über den neuen Amtsadel allmählich eine gewisse Selbstständigkeit entwickelt. Deren Damen initiieren den Salon. Und um dort erfolgreich anzukommen, bedarf es einer Reihe flüssiger Voraussetzungen, die wiederum selbst in Bewegung sind, und so eine Reihe modischer Fettnäpfchen bereithalten. Nicht zuletzt das Risiko, »sich zum Affen des Zeitgeistes zu machen.«
Zu einer zeitlosen Bedingung der Eleganz gehört, was bereits im »Libro del Cortegiano« des Diplomaten und Renaissanceschriftstellers Castigliones mit dem Wort Sprezzatura verhandelt wird: Die »Sprezzatura«, schreibt Knipp, »bedeutet wörtlich ›Preislosigkeit‹, im Sinne von Mühelosigkeit, Souveränität, die sich als solche nicht ausstellt: Das ist jene Lässigkeit, die heute im Begriff der Coolness aufscheint – und die bereits den Salongesprächen des 17. Jahrhunderts ihre entspannte Eleganz verlieh.«
Klar ist: Die Gesellschaft ausgehend vom 17. Jahrhunderts mit dem Machtverlust des Adels bis zur französischen Revolution lässt sich nicht brachial auf unsere Verhältnisse übertragen. Leserinnen und Leser brauchen andererseits den Eskapismus in ein imaginär eleganteres Früher nicht zu fürchten. Doch mit den abundant gehobenen Textfunden vergangener Autoren wie La Rochefoucauld, La Bruyère oder Guez de Balzac drängen sich brillante Vergleiche zur aktuellen Debattenkultur geradezu auf. Etwa wenn es im Sinne de Balzacs heißt: »Meinungen gehen mit ihrem Träger, ihrer Trägerin eine oft allzu innige Bindung ein, sie zu korrigieren, zumal in einem größeren Kreis, ist keine leichte Übung. Allzu schnell kollidiert die Korrektur mit dem Stolz, weshalb es ratsam scheint, zu Meinungen ein distanziertes Verhältnis zu haben.» De Balzac selbst sagt: »Ich zweifele lieber, als dass ich einen festen Standpunkt einnehme«.
Wer denkt da nicht an Social Media, wo der endlose Exzess ungefragter Ich-Botschaften zu allem und jedem auf Abwehr und Verhinderung eines echten Gesprächs zielt. Zwar erspart uns Knipp mit seinem Essay glücklicherweise ein weiteres Benimmbuch. Doch auch das Reglement einer Höflichkeit, dem sich manch einer aus falsch verstandener Freiheitsidee nicht »unterwerfen« will, kann eine Einladung zum Gespräch sein. »Klar ist aber auch, dass bei aller Offenheit der Sinne ein bestimmtes Reglement zu beachten ist. Der Salon appelliert an die vornehmen Seiten der Gäste, fordert sie aber auch ein. Die Tonhöhe ist, bei aller Freiheit im Einzelnen, im Ganzen strikt vorgegeben, der Kanon der Artikulation exakt umrissen. »Die Umgänglichkeit besteht aus mehreren Dingen«, erfahren wir, »lässt Eustache de Refuge (1564-1617) 1616 die Leser seines Traité de la cour, ou instruction des courtisans (›Abhandlung über den Hof, oder Anleitung für Höflinger) wissen, »Vor allem aber in diesen Fähigkeiten: andere angemessen zu empfangen, die Personen zu begrüßen, ihnen ihre Ehre zukommen zu lassen, sie zu respektieren, auf sie zuzugehen, sie durch Zeichen und wohlwollende Signale anzusprechen, sie unserer Höflichkeit und unseres Wohlwollens zu versichern; ihnen mit Gesten und freundlichem Umgang ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln, so dass sie mit uns ins Gespräch kommen.««
Schließlich ist das Gespräch auch »ein sinnliches Erlebnis ersten Ranges«. Und »Gastgeberin wie Gäste bevorzugen den unterhaltenen, spielerischen Stil.« Ähnlich schweift der Text von Castigliones Lässigkeit über Montaignes Entdeckung der Subjektivität, der Macht der höfischen Etikette, dem Verhältnis der Geschlechter, der Mode und dem Individualismus Rousseaus bis hin zu Konvention und Bruch im 19. Jahrhundert. Dabei erfüllt sich ein weiteres Doppel, das über fast 240 Seiten durchgehalten wird und unbedingt zur Qualität des Buches gehört: Der Essay »Die Erfindung der Eleganz« besitzt in seiner Sprache selbst eine elegante Textur, und wird so als diskrete Schrift gegen die Grobheiten der Gegenwart wirksam, ohne sich selbst schreiend ins Licht zu rücken und seinen Gegenstand am Ende zu unterlaufen. Ähnlich ausgewogen wie die Diskussion im darin zitierten »Cortegiano« des Castiglione: »Denn die ist nicht nur ein Plädoyer für eine neue Kultur und Lebensweise, sondern illustriert sie zugleich. Indem sie sich vollzieht, zeigt sie, wie ein geistvoller Dialog aussehen kann.«
Ja, vielleicht könnte die Bescheidenheit des Autors im Schlusswort etwas geringer ausfallen. Aber das ginge wohl zulasten der gerade gelobten textlichen Eleganz, die gerade durch Zurückhaltung stark ist. So bleibt es Leserinnen und Leser selbst überlassen, im Sinne der Fülle fließender Ideen im Essay, die Eleganz im Alltag so wachsam wie spielerisch auszugestalten.
Die Erfindung der Eleganz, Kersten Knipp, Reclam 2022, 266 S., 25,00 Euro, reclam.de